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Schwulsein – Was ist das?

Schwule sind männliche Homosexuelle, d.h. daß Männer auf sie eine wesentlich stärkere Anziehungskraft ausüben als Frauen. (Das ist nicht gleichbedeutend mit „Schwule sind Männer, die es mit anderen Männern treiben.“ Diese rein aktionsbezogene Begriffsbestimmung trifft haarscharf am emotionalen Kern vorbei.) Damit ist eigentlich schon das Wichtigste gesagt.Warum jetzt noch ein ganzer Artikel folgt, liegt unter anderem daran, daß Tante Frieda und Onkel Max es einfach süß finden, wenn auf der Parkbank Bernhard mit seiner Susanne knutscht, wohingegen sie entsetzt vor Peter und Thomas zurückschrecken, die ihnen auf dem Kiesweg entgegenspazieren – skandalöserweise Hand in Hand.

Schwulsein wird heutzutage eben noch immer anders bewertet als Heterosexualität. Das Leben eines Schwulen wird einschneidend mitbestimmt durch ständige und nicht immer gerade subtile Einmischungen in seine Intimsphäre seitens einer größtenteils schwulenfeindlichen Umgebung; einer Umgebung, welcher es einfach nicht gelingen will, jahrhundertelange panische Berührungsängste mit allen daraus entspringenden Klischees, Prinzipien und Verhaltensweisen abzubauen.

Solches hat für den Schwulen natürlich Konsequenzen, die sich am plastischsten wohl in den vielen Facetten schwulen Alltags widerspiegeln, weswegen von ihnen hier einige in groben Strichen skizziert werden sollen.

Anfang

Einem Jungen (oder nicht mehr ganz so jungen) wird plötzlich bewußt, daß manche Männer in seinem Blickfeld ganz schön interessant sind und daß das nicht nur an deren inneren Werten liegt. Er beginnt sie genauer zu mustern, was an und für sich nichts besonderes ist, da sich ja jeder die Menschen anschaut, die ihm so begegnen.

Jedoch, so stellt er in einem vielleicht langwierigen Prozeß fest, muß er das irgendwie im Zusammenhang damit betrachten, daß er ständig davon tagträumt, mit gespreizten Fingern durch das dichte Kraushaar einer breiten, wohlgeformten Brust zu fahren – sich an der zarten Haut eines schlanken, nackten Jungen zu reiben – an einem dicken Schnauzbart herumzunagen, während ihn zwei muskulöse Arme bergend umfangen; daß seine Blicke ständig an hautengen Jeans kleben bleiben, die sich über lange durchgebildete Männerschenkel spannen; daß es ihm äußerst lästig ist, wenn seine Freundin immer andeutet, wie schön sie es fände, endlich einmal mit ihm zu schlafen; daß er sich heimlich ein Pornoheft mit knackigen Frauen kaufen wollte und nun ein Gay-Magazin zwischen seinen Elektronik-Zeitschriften steckt.

Alles wirkt auf eine seltsame Weise unangenehm, ja bedrohend auf ihn, es paßt alles nicht so recht zu dem Bild von sich und der Welt, das er unter dem Einfluß eines Klimas aufgebaut hat, in dem solche „Verirrungen“ sozusagen hinter vorgehaltener Hand besprochen werden. Er bemüht sich, wieder mehr Anteil an den sagenhaften Abenteuern seiner Kumpels zu nehmen, in denen die umwerfenden Vorzüge gewisser Mädchen die Hauptrolle spielen, aber irgendwie bleibt ihm der Zugang zu dieser Welt verschlossen, und er macht auch bald mit seiner Freundin Schluß. Schließlich, nach vielen geistigen Verrenkungen und nach langem inneren Widerstreben, gesteht er sich in aller Heimlichkeit ein, daß dieses gemeine, schreckliche Wort SCHWUL (später trägt er es mit Stolz) in gewisser Weise auch auf ihn passen könnte, aber nicht so direkt, schließlich gibt es da noch Unterschiede.

Bewußtsein

Wenn ein Mann schwul ist, wird er üblicherweise nur ganz selten nicht an diese Tatsache denken. Lernt er beispielsweise jemanden neu kennen, so kann er fast sicher sein, daß ihn sein Gegenüber nicht einmal im Traum für einen Schwulen hält. Ein Freund, dem er von seinem Schwulsein erzählt, empfindet das vielleicht als einen sehr großen Vertrauensbeweis (warum wohl?), aber er kann sich auch auf unbestimmte Art hintergangen fühlen, so als hätte man ihn belogen (warum wohl?). Im Sportverein muß er sich ohne Möglichkeit zur Gegenwehr, dafür aber mit einem abgekrampften, bewundernden Lächeln die schlüpfrigen Erlebnisse seiner Sportskameraden anhören, denn gerade in Sportvereinen wird viel eher zur Schwulenhatz geblasen als sonstwo. Kinofilme wimmeln von Frauen, die mit Männern …, und noch mehr von Männern, die mit Frauen … Ähnlich sieht es im Bereich der Literatur aus, wo für die spärlichen Bücher schwuler Thematik manchmal auch noch mit Slogans geworben wird, wie etwa „… daß der Autor sich mit ungewöhnlichem Mut diesem schwierigen Problemkreis nähert“.

Immer und überall wird dem Schwulen die Mann-Frau-Beziehung als Norm hineingewürgt und immer wieder muß er dieser Norm gegenüber sein eigenes Wesen behaupten. Manch einer bewältigt diese Schwierigkeiten nie und verbittert, doch findet sich ein Schwuler in seine Position hinein, dann sicherlich nicht ohne Gewinn.

Öffentlichkeit und so

Da hat sich in den letzten Jahren so manches gewandelt, hauptsächlich im privaten Rahmen und bei jüngeren Jahrgängen.

Bei vielen Menschen haben sich Vorurteile gelegt und Toleranz und Verständnis Schwulen gegenüber verbreitet. Dafür war und ist am hilfreichsten, im täglichen Umgang voneinander zu lernen, daß der jeweils andere – bis auf jenen kleinen Unterschied – gar nicht so anders ist.

Aber in der „großen“ Öffentlichkeit sieht es damit anders aus.

Nach wie vor geistert hier eine seltsame Vorstellung herum, Schwule seinen alle völlig überspannte Unmänner, gekennzeichnet durch extrem auffällige Kleidung und Schminke, durch mondän-feminines Gehabe und eine schnatternde Redeweise in übertrieben hoher Stimmlage. (Es macht zugegebenerweise unheimlich Spaß, manchmal so aufzutreten, besonders zu mehreren. Auch gibt es Menschen, denen ein solches Auftreten inneres Bedürfnis ist. Wogegen aber schärfster Protest einzulegen ist, sind die Verallgemeinerungen, die daraus gezogen werden.) Das Schlimme daran ist, daß von Leuten, die keine Schwulen kennen, dieses Bild je nach Geschmack mit Abwertungen bedacht wird wie „unnatürlich“, „abartig“, „krankhaft“ (also „schuldlos homosexuell“) oder in der böseren Version mit „amoralisch“, „pervers“ und „kriminell“. Schwule als geachtete Mitglieder der Gesellschaft haben in diesen Vorstellungen keinen Platz, dafür aber bricht der hysterische Drang durch, seine Kinder vor ihnen in Sicherheit zu bringen.

Wenn es nur bei Verunglimpfungen bliebe, könnten die Schwulen ja damit leben, aber jene tiefverwurzelten Schreckensvisionen haben viel weitergehende Auswirkungen. Angenommen, ein Schwuler legt sein Selbst allgemein offen. Dann wird sich sein Arbeitskollege oder Tennispartner wohl genau überle gen, ob er es sich denn leisten könne, weiterhin mit solchen Leuten Umgang zu pflegen. Ein Personalchef erklärt zu den Beförderungsvorstellungen seines Mitarbeiters, im Grunde habe er ja nichts gegen Schwule, aber der Ruf der Firma und einflußreiche Kundenkreise, Sie verstehen. Als Schwuler in den Kleingärtner-Vereinsvorstand oder in den Gemeinderat gewählt zu werden, grenzt schon nahezu ans Unmögliche.

Die eigentliche Schwierigkeit liegt also nicht zuallererst in den Einstellungen von Heterosexuellen Schwulen selbst gegenüber, sondern in den befürchteten Folgen einer solchen Bekanntschaft, wie beispielsweise Verlust von Ansehen oder Angst davor „in diese Dinge“ mit hineingezogen zu werden.

Es gibt Plätze, wo Schwule Hausverbot haben. Es gibt Ärzte, die trotz ihrer Behandlungspflicht Schwulen die Tür weisen. Es gibt Schlägertrupps, die nur so mal zum Spaß Schwule überfallen. Und natürlich: man wird beobachtet. Jede kleine Abweichung vom „Normalen“ hat sofort ihre Erklärung, man weiß ja schließlich, daß … Es ist sehr schwer, sich mit diesem Brandmal außerhalb der schwulen Szene zu behaupten. Traurig, daß das soweit gehen kann, daß aus diesem einen Unterschied eines einzelnen Wesenszuges gleich eine Trennungslinie zwischen zwei ganz unterschiedlichen Menschenarten konstruiert wird.

Coming-Out

Die besonderen gesellschaftlichen Umstände schwulen Lebens haben ein Phänomen hervorgebracht, das es bei den Un-Schwulen (fast) nicht gibt, welches aber das Leben jedes schwulen eine gewisse Zeit sehr bestimmt. Coming-Out könnte man frei übersetzen mit „aus dem Versteck herauskommen“, wobei das erste homosexuelle Erlebnis nur ein Aspekt unter vielen ist.

Coming-Out beginnt ungefähr da, wo der Abschnitt „Anfang“ ausblendet. Hat sich der Betreffende wieder und wieder durch den gigantischen Wust an Verdrängung, Verzweiflung, Scham, gutgemeinten Idealen und ernstgemeinten Büchertheorien durchgekämpft; läßt er seine schwulen Empfindungen endlich bewußt in sich aufsteigen, bis er sie schließlich voll und ganz als Wesensteil von sich selbst akzeptiert hat; sagt er zum ersten Mal klar und deutlich „Ich bin schwul. Jawohl, das bin ich“, dann hat er den ersten Schritt des Coming-Out hinter sich.

Der weitere Weg ist nicht gerade einfach, oft lang und unvermeidlich. Meist sind es enge Freunde, mit denen der Outcomer zuerst über sein Schwulsein spricht und fast immer Verständnis, manchmal auch Ablehnung findet. Kontakte mit der schwulen Szene finden statt, häufig unter dem Deckmantel der Anonymität. Mit wachsenden guten oder schlechten Erfahrungen wächst der Mut oder der Trotz. Erste befreiende heiße Nächte geben mehr Sicherheit, wenn auch als Relikt früherer Zeiten die hartnäckige Besorgnis im (Unter-)Bewußtsein eingeprägt ist, es könnten zu viele oder die falschen Leute davon erfahren.

Die schwierigsten Hürden für den Outcomer sind im allgemeinen Ausbildungs-, Arbeits-, Freizeitkollegen, die Eltern vor allem und die Verwandten, und eventuell die „Öffentlichkeit“; letzteres bedeutet, sein Schwulsein in Umgebungen zu zeigen, in denen die Leute nicht gefiltert sind, Läden, Kinos, Gaststätten, usw. Dazu kann dann noch das Engagement in der Schwulenbewegung kommen. Danach hat man sein Coming-Out – oder besser: den Großteil seines Coming-Outs – hinter sich gelassen.

Diese Phase ist anstrengend und mit großer seelischer Aufruhr verbunden, zugegeben, aber die Arbeit damit ist schlichtweg notwendig und sie lohnt sich auch unbedingt. Auf ein paar Veränderungen im Bekanntenkreis muß der Outcomer zwar gefaßt sein, aber das ist zu ertragen und danach lebt sich’s ehrlicher. Den Kampf in der „großen“ Öffentlichkeit wird ein Schwuler, wenn überhaupt, sowieso erst zu einem Zeitpunkt aufnehmen, zu dem er in seinem schwulen Selbstbewußtsein schon gefestigt ist.

So richtig allerdings hört Coming-Out eigentlich niemals auf. Immer wieder gibt es Situationen, in denen man
jemandem sein Schwulsein erklären muß und eventuell auf ablehnende Reaktionen stoßen wird. Aber solches ist nun einmal schwules Schicksal und nach einiger Zeit regt einen das nicht mehr auf, wenn man gelernt hat, daß diese Ereignisse für das Wesentliche unwichtig sind.

Die andere Seite

Eine trübselige Angelegenheit wäre das, wenn man seinem schwulen Drang folgend jahrelang an der Brücke zum „anderen Ufer“ gebaut hätte und dann das Land der Verheißung beträte, nur um feststellen zu müssen, daß sich dort die Probleme verdreifachen und die schönen Seiten des Lebens halbieren. Glücklicherweise ist dem nicht so, und an dieser Stelle sollen einige (jugendfreie) positive Seiten des Schwulseins angesprochen werden. Immer wieder treten Anlässe auf, sich als schwuler Mann mit seiner Geschlechtlichkeit auseinanderzusetzen und zwar in einem Ausmaß, wie es den meisten heterosexuellen Männern wohl unbekannt sein dürfte.

Das hat normalerweise zur Folge, daß man bald sich als „Mensch im allgemeinen“ und besonders seine Sexualität sehr genau kennenlernt, so daß der Boden zur Entwicklung einer in allen Aspekten in sich stimmigen, befriedigenden, selbstbewußten Identitäten gut vorbereitet ist. Als Angehöriger einer ungewollt zur besonderen Minderheit hochstilisierten Personengruppe erfährt man am eigenen Leib, was Toleranz und Intoleranz bedeuten. In Reaktion darauf wird einem aber auch die Chance eröffnet, die gleiche für sich selbst verlangte Aufgeschlossenheit auch anderen Leuten gegenüber zu entwickeln (auch Tante Frieda, Onkel Max, Bernhard und Susanne seien hier nicht vergessen), indem man – halb gewollt und halb gedrängt – präzise eigene Vorstellungen über Gut und Böse entwickelt, sie mit einem offenen Ohr für die besonderen Argumente des anderen in der Praxis umsetzt und sie gegebenenfalls korrigiert.

Schwulsein schließlich verlangt vom Schwulen auch manchmal das „Bekenntnis“ dazu. So gering die Konsequenzen im Einzelfall sein mögen, immer kostet das etwas Überwindung, besonders am Anfang der Laufbahn.

Aber damit ist jedesmal ein stärkender Impuls für die Zivilcourage verbunden, ein nicht zu unterschätzender Effekt für ehrliches schwules Selbstbewußtsein auch nach außen hin, welches so dringend benötigt wird, wenn die Schwulen in unserer Gesellschaft nicht für ewig in den Untergrund abgedrängt bleiben sollen.

Zu guter Letzt

Hast Du diesen Artikel bis hierher überflogen, oder mit wachem Interesse gelesen? Findest Du Dich sogar in einigen Passagen wieder? Stehst Du vielleicht schon mitten in dem inneren Kampf, für den es ein gutes, aber auch so manches schlechte Ende geben kann? Dazu mag es vielleicht hilfreich sein, ein paar Anhaltspunkte zu haben, mit denen Du eventuell weiterkommen kannst.

Keine Angst haben

Das heißt, gewisse Dinge erst einmal an sich herankommen lassen. Empfindungen, Gefühle zulassen. Nichts abwehren wollen, was in einem aufsteigt. Daran geht niemand zugrunde, ganz im Gegenteil!

Ehrlich sein

Das heißt, Beobachtungen, die man an sich macht, nicht interpretieren oder umdenken wollen, nicht mit Idealvorstellungen vermischen. Einfach nur in aller Ruhe bewußt beobachten, nichts erklären. Ehrlichkeit zu sich selbst ist das Wichtigste überhaupt, so oder so.

Von sich ausgehen

Auf die Bedürfnisse lauschen, die aus seinem Inneren kommen, und nicht aus irgendwelchen Wertsystemen ableiten wollen, welche Bedürfnisse Herz und Körper haben dürfen, haben sollen. Alle Worte vergessen, seine Träume ganz ausleben, nichts zensieren. Sich so kennenlernen, wie man selbst ist.

Sachen ausprobieren

Was man nicht kennt, kann man kaum beurteilen. Auch hier: Im Moment sich ganz auf seine Gefühle konzentrieren, für die philosophische Bewältigung bleibt wirklich noch genügend andere Zeit.

Sich mitteilen

Klarheit gewonnen? Mit einem guten Freund über die Sache reden, vielleicht zuerst ganz allgemein. Hören, was andere darüber sagen. Sich informieren. Und: mal ganz vertraulich mit (anderen?) Schwulen reden, sie beißen Dich nicht, wenn Du nicht willst, ganz großes Ehrenwort.

Thomas