Anfahrt     Kontakt     Spenden


Ministerpräsident Winfried Kretschmann – „Warum ich Ihrer Aufforderung nicht nachkommen kann“

Dass bis vor kurzem noch Unvorstellbare ist geschehen: Die CDU ist nach 58-jähriger Regierungszeit in Baden-Württemberg abgewählt worden. Und das noch Unvorstellbarere: Nicht die SPD stellt den nächsten Ministerpräsidenten, sondern Bündnis 90/Die Grünen.
Doch wer ist dieser neue Mann, Winfried Kretschman, an der Spitze von Baden-Württemberg? Können wir Schwule und Lesben uns von ihm berechtigt eine Verbesserung unserer rechtlichen Situation erhoffen?

Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang ein offener Brief (Quelle), den Winfried Kretschmann als Mitglied des Landtages im August 2003 an den damaligen Kardinal Joseph Ratzinger und heutigen Papst Benedikt XVI geschrieben hat. Der Titel des Briefes lautet:

Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen

Sehr geehrter Herr Kardinal Ratzinger,

Sie haben sich wegen der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften an die katholischen Politiker gewandt. Deswegen möchte ich Ihnen in der gebotenen Kürze meine Beweggründe darlegen, weshalb ich Ihrer Aufforderung, solche Lebensgemeinschaften nicht rechtlich zu verankern, nicht nachkommen kann.

Meine allererste und grundlegendste Verpflichtung als demokratischer Politiker ist die Achtung und der Schutz der unantastbaren Würde jedes Menschen und der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, die sich aus ihr ergeben. Unantastbarkeit meint ja gerade, dass die Menschenwürde ein unhintergehbarer Wert ist, die jedes Mitglied der menschlichen Gattung von Anfang an hat. Ihr Besitz ist an keinerlei weitere Kriterien oder Bedingungen geknüpft, insbesondere nicht an solche der natürlichen Konstitution oder Verfasstheit des Menschen, also auch nicht an seine sexuelle Orientierung.
Das heißt aber nichts anderes, als dass Homosexuelle vollwertige Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft sind. Diese Anerkennung ist ihnen bis in die jüngste Zeit versagt geblieben. Sie mussten von subtilen Diskriminierungen bis zu schweren Verfolgungen viel Leid erfahren. Damit muss der demokratische Rechtsstaat radikal Schluss machen und sie in ihr volles Recht setzen. Gerade weil Homosexuelle eine kleine Minderheit sind, hat die Politik die Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie im Rahmen der Verfassungs- und Rechtsordnung ihre Persönlichkeit frei entfalten können, solange sie nicht die Rechtsgüter anderer verletzen. Nach allem, was wir heute – im Gegensatz zu den biblischen Autoren – über Homosexualität wissen, ist sie eine normale, in der Regel unveränderbare Variante der menschlichen Sexualentwicklung. Deswegen können homosexuelle Neigungen logischerweise nicht „objektiv ungeordnet“ sein, Homosexuelle Handlungen verstoßen damit auch nicht gegen das Sittengesetz. Folglich haben gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften keinen unsittlichen Charakter. Die sie eingehen nehmen ihr Recht in Anspruch, ihre persönliche Lebensführung frei von staatlicher Bevormundung in eigener Verantwortung zu gestalten, wie es eine freiheitliche Gesellschaftsordnung jedem ihrer Mitglieder gewährt.
Es gibt auch keinen Grund, Homosexuellen das Institut einer eingetragenen Lebenspartnerschaft vor zu enthalten, in dem ihre Rechte und Pflichten geregelt sind, Im Gegenteil. Wenn Menschen vor der Öffentlichkeit eine Partnerschaft eingehen, bekennen sie damit, dass sie dauerhaft füreinander sorgen und einstehen wollen, sie gehen damit z.B. Unterhaltsverpflichtungen ein, die bekanntermaßen auch nach einer Trennung weiter bestehen. Der Staat unterstützt und fördert sozial gesinnte und sozial tätige Gemeinschaften aller Art. Warum sollte er diese Unterstützung ausgerechnet gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften verwehren? Dass der Staat insbesondere Familien mit Kindern fördert und bei knappen Ressourcen seine Mittel auch hier konzentrieren sollte, steht dabei außer Frage.

Warum eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften die Institution der Ehe beeinträchtigen und gefährden sollen, oder gar die Familie opfern, kann ich nicht nachvollziehen. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften als rechtliches Institut werden von einem kleinen Teil der vier bis fünf Prozent homosexueller Menschen eingegangen. Wie sollen sie die Ehe entwerten, die nur Heterosexuelle eingehen können, zu der sie also gar nicht in Konkurrenz stehen? Doch nur, wenn man von der These ausgeht, dass man homosexuell wird, weil man dazu direkt oder indirekt „verführt“ wird, wie es an verschiedenen Stellen Ihrer Erklärung durchklingt. Diese „Verführungsthese“ aber hält einer kritischen Prüfung nicht stand.
Das Gesetz zu den gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften sieht eine Adoption nicht vor. Ihr Vorwurf allerdings, dass eine mögliche Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften diesen Gewalt antun würde, weil sie eine normale Entwicklung durch das Fehlen der geschlechtlichen Bipolarität behindere, scheint mir eher eine Vermutung zu sein als eine empirische gesicherte These.
Die kirchliche Argumentationslinie des „natürlichen Sittengesetzes“ im Zusammenhang mit der Frage der Sexualmoral wirft allerdings Fragen grundsätzlicher Natur auf. Ich kann sie an dieser Stelle nicht vertiefen. Seit der Enzyklika „Humanae Vitae“ sind sie schon vielfach intensiv erörtert worden. Jedenfalls kann das, was dem Menschen „von Natur aus“ mitgegeben ist, weder sittlich noch unsittlich sein, also im moralischen Sinn „ungeordnet“.
Die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ist in der Hominisation ein eindeutiger Trend. Im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen wird die menschliche Sexualität deshalb außerordentlich „plastisch“, kann dadurch eine mehr und mehr „soziale Seite“ bekommen, bis sie, wie Sie so schön formulieren, „auf eine personale Ebene gehoben wird, wo Natur und Geist sich miteinander verbinden“. Warum dies bei gleichgeschlechtlicher Sexualität nicht so sein kann, ist für mich nicht ersichtlich. Dass Sie in diesem Zusammenhang sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe implizit die Menschlichkeit absprechen, geht bei allem Respekt vor Ihrer Position entschieden zu weit und ist wirklich schwer erträglich.

Schließlich bin ich fest davon überzeugt, dass ich mich mit meiner politischen Haltung zu Homosexuellen nicht nur nicht in Widerspruch zu meinem christlichen Glauben befinde, sondern dass er mich gerade zu dieser Haltung ermutigt und auffordert. Nächstenliebe ist das Fundament der christlichen Ethik. Gerade der „Fremde“ ist der Nächste, den wir lieben sollen. Auch „die ganz anderen“ gehören zu uns ganz dazu. Keiner darf an den Rand der Gemeinschaft gedrängt werden, egal wie er gestrickt ist. Sollen Homosexuelle, die ihre sexuelle Orientierung auf ihren Lebensweg mitbekommen haben, von uns Christen dafür bestraft werden, indem wir ihnen verbieten, Beziehungen einzugehen und zu leben, die ihrem „so sein“ entsprechen? Gewiß nicht. Denn unser Gott ist ein liebender und gerechter Gott. Katholisch heißt doch wohl, die Frohe Botschaft Jesu gilt für alle. Homosexuelle und andere diskriminierte Minderheiten vom Rand in die Mitte der Gesellschaft zu holen, sehe ich als eine meiner Aufgaben an, die mir als demokratischer Politiker wie als Christ aufgegeben sind.

Mit freundlichen Grüßen
Winfried Kretschmann MdL