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Schwul: Eben nicht… na und?

Das Leben ist einfach zu schön, als daß ich Lust hätte, mich selbst immer wieder zu fragen, was ich darf und was nicht. Außerdem: Wieso sollte ich eigentlich fragen, was ich darf und was nicht? Und will ich überhaupt wissen, was ich darf und was nicht? Nun ja, für mich ist es eben schon wichtig, mich an das zu halten, was ich darf und was nicht.

Für alle diejenigen, die jetzt nach drei gedruckten Fragezeichen auch ein großes Fragezeichen vor dem Kopf stehen haben: Don’t panic! Ich werde versuchen, all das deutlicher zu beschreiben.

Ist das Leben schön?

Wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der ich mich zum ersten Mal ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob ich denn nun schwul sein könnte oder vielleicht doch nicht, erinnere ich mich hauptsächlich an mein Gefühlsleben der Welt im allgemeinen gegenüber:

  • Das Leben macht keinen Sinn!
  • Keiner versteht mich!
  • Keiner mag mich!
  • Was soll ich in dieser Welt eigentlich?
  • Was sollte mir das Leben denn bieten können?

Es gab keinen Musikstil mehr, der mich beruhigen konnte, kein Essen, das mir schmeckte, kein Vogel, der schön sang. (Gut, sie sangen schon, aber ich hatte mich eher darüber aufgeregt, daß sie mich morgens aufweckten, als Ihren Gesang schön zu finden .)

Was mir heute klar ist: Es war ein einziges, alles überdeckendes Problem, das mich hat die Welt verfluchen lassen: Ich bin schwul! Dieses aber – scheinbar – niemandem sagen zu können baut Frust auf, Aggressionen, das Gefühl, daß keiner und niemand mich versteht. Aber warum? Weil ich selbst das nicht mag, was da mit mir passiert. Aber: Warum mag ich es nicht? Prinzipiell kann ich es doch nicht als falsch oder schlecht empfinden, wenn ich es genieße, einen tollen Mann anzublicken. Denn eigentlich ist das ja nun wirklich ein schöner Anblick und ich habe ja auch keine Probleme damit, einen schönen alten Porsche anzustarren. Also warum dieses dumme Gefühl, daß ich mich selbst nicht so mag, wie ich bin?

Gesellschaft ist wichtiger als man denkt!

Natürlich liegt die Antwort auf der Hand: Ich mag mich nicht, weil ich einem ganz entscheidenden Kriterium im Bewertungssystem unserer Gesellschaft nicht gerecht werde: Ich habe nicht die richtige sexuelle Orientierung.

Da stellen sich mir aber zwei ganz wesentliche Fragen: Was ist „Gesellschaft“ und was ist „richtig“?

Gesellschaft ist leider die Summe all dessen, das auf mich an sozialen Kontakten unmittelbar einwirkt und darüber hinaus auch noch der Rest aller Menschen, die mich ja auch irgendwie beeinflussen. Da sind also Nachbarn, Freunde, Familie, Kollegen, alle Mitglieder der Partei der Grauen Panther des 1. FCK und so weiter und so weiter. Jeder Teil der Gesellschaft hat seinen eigenen Beitrag dazu geleistet, daß ich mich unwohl fühle, wenn ich mir vorstelle, schwul sein zu können. Aber wie? Man lese die Bibel und finde eine Stelle an der es dem Manne verboten wird, mit einem Mann so zu schlafen, wie er mit einer Frau schläft (ok, über anatomische Details wollen wir jetzt nicht reden). Man sehe sich Berichterstattungen über Feste oder Demonstrationen Homosexueller an und finde lauter schrill angemalte Menschen, die eher an das Geschlecht erinnern, zu dem sie sich eigentlich gar nicht hingezogen fühlen – Ergo: Alle Schwulen sind Tunten. Wenn man dann noch in einer mittelmäßig gläubigen Familie mit dem klassischen Männlichkeitsideal aufgezogen wird, paßt der Anspruch von Bibel und dem oberflächlichen Eindruck der Tunten-Szene in keinster Weise auf das, was man gerne sein möchte. Mir jedenfalls geht es so.

Warum nehme ich hier die Bibel zu Rate? Ganz einfach. Dieses Buch – man merkt es, wenn man es aufmerksam und sehr kritisch liest – bildet für unsere Gesellschaft, so aufgeklärt sie sich auch gibt, die Grundlage fast allen sozialen Verhaltens. Und dies hat ja auch seine Berechtigung, denn im allgemeinen ist das, was da so in diesem Buch zu finden ist, gut und förderlich für ein harmonisches Zusammenleben. Es stellt ein Gesellschaftssystem dar, das durchaus stabil und sozial arbeitet. Auch das vermittelte Wertesystem hat (bis auf eben einige Ausnahmen) durchaus sein Gutes und entfernt uns deutlich vom Faustrecht. Daher sollte man nicht verkennen, wie stark man im positiven Sinn durch die Bibel geprägt ist. Selbst wer sich völlig von Kirche und Glauben abwendet verhält sich meist doch noch so, wie die Bibel es fordert – jedenfalls im großen und ganzen. Wenn aber alle Menschen von unserem Kulturkreis grundlegend geprägt worden sind, dann sind sie auch im Zusammenhang mit der gleichgeschlechtlichen Liebe ablehnend voreingenommen. Also glauben alle, daß Homosexualität etwas abartiges, krankhaftes und gefährliches sei. Nun, und da ich Teil dieser Gesellschaft bin, glaube ich das natürlich auch – zumindest glaubte ich es.

Schlimmer aber noch stand ich vor der Angst (und stehe teilweise auch heute noch davor): Was würden die Anderen mit mir machen, wenn sie erführen, daß ich nicht zu diesem Gesellschaftsbild passe? Nein! Nein! Nein! Es darf nicht sein, es kann nicht sein, ich will das nicht!

Und damit sind wir bei dem Begriff „richtig“. Denn wenn die Gesellschaft eine Form des sexuellen Erlebens als richtig einstuft, dann muß es ja wohl so sein, daß eben diese Form die richtige ist. Jedenfalls habe ich mir nie Gedanken gemacht, daß sich ja auch die Gesellschaft irren könnte. Für mich war es klar: Millionen Fliegen irren nicht, auch wenn das, auf das sie fliegen nur Scheiße ist. Und bitte: Ich dachte doch genauso wie man das von mir erwartet hatte: Homosexualität war einfach nicht „richtig“. Vielleicht war sie nicht verurteilungswürdig, aber auf keinen Fall war sie normal und richtig. Nun gut: Gottseidank bin ich ja lernfähig. (Hoffentlich ist es die Gesellschaft auch!)

Ich bin mir wichtiger als die Gesellschaft!

Die Angst ist der Schlüssel zum Mut. Und die Verzweiflung öffnet Tore. Jedenfalls tat sie dies in meinem eigenen Kopf. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich innerlich zuließ zu sein, wie ich bin. Ich hatte in der Straßenbahn die ganze Fahrt lang – und es waren einige Stationen – einen wirklich schönen Mann angestarrt. Als ich dann zu Hause war, war ich derart verwirrt, daß ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. War es also doch wahr?

Vielleicht.

Jedenfalls stellte ich immer häufiger bewußt fest, daß ich mir attraktive Männer näher ansehen wollte und dabei kein schlechtes, sondern ein angenehmes Gefühl hatte. Und irgendwann wurde aus dem Vielleicht ein Wahrscheinlich.

Das schöne an dieser Zeit war, daß plötzlich auch die Vögel wieder singen lernten, selbst das Mensa-Essen wieder Geschmack bekam (es muß doch Wunder geben) und die Musik auch wieder besser wurde. Ohne daß ich es merkte, war mein alles überschattendes Problem weg: Ich begann, mir darüber klarzuwerden, daß ich mein Leben so leben wollte, daß ich, wie nuneinmal war und bin, mich darin wohlfühlen konnte.

Nur wie weiter?

Bis ich dann wirklich den ersten Kontakt zur schwulen Szene gesucht habe verging noch ein bißchen Zeit. Bis ich mich offen vor den Spiegel stellen konnte um mir ins Gesicht zu sagen: „Ich bin schwul!“ noch mehr Zeit. Und bis ich offen mit anderen Schwulen über mein eigenes Schwulsein reden konnte noch viel mehr Zeit. Und offen über mein Schwulsein mit Außenstehenden zu reden schaffe es auch heute nur sehr sehr selten.

Der erste wirkliche Kontakt mit der Szene für mich war der Besuch einer schwulen Disco. (Natürlich außerhalb Karlsruhes, logo!) Obwohl ich natürlich einiges erwartet hatte, war der Schock doch gewaltig, da plötzlich Männer Arm in Arm oder gar sich küssenderweise zu beobachten. Noch schlimmer war aber dann, bei einem ersten Gespräch mit einem wirklich echten, wirklichen und leibhaftigen Schwulen wie selbstverständlich eben diesen mit mir darüber reden zu hören, daß ich ja schwul bin. Das wichtigste an diesem Abend war aber zu sehen, daß Schwule ganz normale Menschen sind: Dick, dünn, muskulös, dürr, rothaarig, dunkel, behaart (so, daß die Büschel aus dem T-Shirt rausgucken) oder glatt (jedenfalls soweit ich das beurteilen konnte), in Anzug oder Jeans, nüchtern und betrunken. Nur scheint der Anteil der Schwulen, die gut tanzen können wirklich höher zu sein als unter Heteros: Man genieße es!

Nach diesem Erlebnis folgten einige Monate des Nicht-Wissens. Was will ich eigentlich? Mit meinen Freunden konnte ich nicht reden, mit den Jungs die ich in den Discos kennengelernt hatte (so viele waren es auch nicht), ebensowenig. Aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, über das zu reden, was mich bewegt _ nein: was mich ausmacht. Aber mit wem?

Endstation: Aufbruch!

Dann kam das, was nicht hätte sein dürfen: Ich mußte mich also ausgerechnet in einen stock-heterosexuellen
Bekannten vergucken. Na Bravo! Super! Toll! Haste mal wieder hervorragend hingekriegt!!! Bisher war ja alles ganz nett, aber jetzt? Ich brauchte einfach Leute, denen ich mich anvertrauen konnte und von denen ich glauben konnte, daß sie mich verstehen. Kurz: Ich brauchte Rat!

Und da ich nun schon seit längerem (ganz verstohlen, wenn noch niemand im Mensa-Foyer ist) mir alles das
einheimse, was die Schwung so zu bieten hat, war ich natürlich auch über die Coming-Out Gruppe informiert. Also: Jetzt gab es keine Ausreden mehr, warum ich Montags keine Zeit haben sollte oder daß mich da jemand erkennen könnte oder oder oder. Einfach hin.

Ja übrigens: Daß mich jemand erkennen sollte: Mich hat jemand erkannt, den ich schon seit längerem kenne. Das war übrigens das schlimmste, was ich mir vorher ausgemalt hatte. Aber mir ist nie in den Sinn gekommen, daß jemand, der mich in dieser Gruppe erkennt, ja selbst auch schwul ist, sprich, meine Probleme sehr gut versteht! Und es war überhaupt kein Problem, ihn da zu treffen – wieso auch?

Das Leben ist schön!

Lange bin ich noch nicht dabei. Aber die vergangenen Wochen scheinen den Lebensinhalt von Monaten in sich komprimiert zu haben. Aber ich bin mir jetzt absolut sicher: Diesen Aspekt meines Ichs, diese Erfahrung mit dieser Gruppe möchte ich nicht missen: Endlich offen mit Anderen darüber reden zu können, wie toll doch der Typ am Nachbartisch aussieht oder sich einfach nur so zu unterhalten, ohne Angst zu haben, man könnte sich durch irgend etwas verraten. Selbst „Ich“ zu sein und das mit anderen teilen: Darum geht es hier.

Sicherlich werde ich jetzt nicht von heute auf morgen allen meinen Freunden und Bekannten sagen: „Du, ich bin schwul“. Ebensowenig werde ich das sofort meinen Eltern auftischen. Der Weg dahin ist möglicherweise noch weit, vielleicht werde ich an diesem Ziel auch nie ankommen. Aber das ist da schöne: Ich weiß es nicht, aber niemand zwingt mich, irgend etwas zu tun oder zu lassen. Sicherlich gibt es Leute in meinem Leben, denen ich es unbedingt sagen möchte. Ein paar wissen es schon (übrigens sprechen alle, die es wissen, noch mit mir.). Ebenso sicher bin ich mir, daß es einige Menschen gibt, denen ich es nie sagen werde.

Für mich ist heute eines klar: Die Gesellschaft hat mich um die Offenheit und den Spaß eines großen Teils  meines bisherigen Lebens betrogen. Jetzt entscheide ich, und nur ich ganz alleine, ob die Gesellschaft von mir die Wahrheit erfährt und wenn ja, bis zu welchem Grad! Ab jetzt bin ich der Chef in meinem Leben und das Leben ist schön!

Mark (Goldie)